Download

Unbewusste Motive beruflicher Entscheidungsprozesse können durch das Modell der Karriereanker entdeckt werden.
pdf, 153 KB
HIER DOWNLOADEN

Das Konzept der Karriereanker wurde in den 1960er-Jahren von Edgar Schein, einem damaligen Professor für Organisationspsychologie und Management am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge bei Boston, entwickelt. Seine Grundidee war, die "innere" und "äußere" Karriere voneinander zu unterscheiden. Während die "äußere Karriere" für das Verfolgen eines klassischen Aufstiegspfades steht, der im Allgemeinen von Organisationen festgelegt und vorgegeben wird, bezeichnet die "innere Karriere" eine berufsorientierte Präferenz, die sich aus den eigenen Talenten, Fähigkeiten, Werten und Motiven speist. Diese Vorstellung, die jemand von sich selbst in Zusammenhang mit dem eigenen beruflichen Werdegang entwickelt, entsteht schon vor der eigentlichen Berufswahl in jungen Jahren - eine Entwicklung, die sich unter dem Eindruck beruflicher Erfahrungen immer stärker herausbildet. Sind diese grundlegenden Motivationsstrukturen erst einmal ausgeprägt, ändern sie sich meistens nicht mehr, nur die Priorisierung innerhalb dieser Gesamtheit kann wechseln.

Selbstbild als Leitsystem

Der Begründer weist in seinem Konzept darauf hin, dass dieses Selbstbild als Leitsystem dient und als Anker wirkt, der die Wahlmöglichkeiten begrenzt. "Der Mensch entwickelt ein Gespür dafür, was 'seins' ist und was nicht. Dieses Selbstwissen hält jemanden 'auf Kurs' oder im 'schützenden Hafen'", wie Edgar Schein in seinem Handbuch erläutert (2005, S. 25). "Wenn Menschen sich auf ihre bisher getroffenen beruflichen Entscheidungen besinnen, erkennen sie immer wieder, dass sie zu Dingen zurückgezogen werden, von denen sie schon abgekommen waren. Sie überlegen, was sie 'eigentlich' machen wollen, und versuchen so, sich 'selbst zu finden'". Allein schon diese zwei Passagen deuten an, weswegen der Anker als Metapher gewählt worden ist: Ein vor Anker liegendes Schiff kann auf dem Wasser in die eine oder andere Richtung treiben, aber der in der Tiefe versunkene Anker begrenzt die Reichweite des Schiffs. Während die Karriereanker sich hinsichtlich dieser Reichweite als nachteilig erweisen, erfährt der Einzelne gerade durch diese Begrenzung einen Schutz in Gestalt eines sicheren psychologischen "Hafens" - daher der Name: Anker.

Folgt man Scheins Gedanken, geht es also darum, eine berufliche Arbeit zu finden, die im Einklang mit den eigenen Kompetenzen, Werten und Neigungen steht. Eine Arbeit hingegen, die immer wieder in Konflikt mit eigenen Werten steht, die das Einbringen eigener Talente und Fähigkeiten verhindert und keinen Sinn darstellt, wird das körperliche und/ oder seelische Wohlbefinden beeinträchtigen. Sollte also dieses subjektive Gefühl wahrgenommen werden, ist es höchste Zeit zu handeln. Der erste Schritt auf dem Weg zu einer stimmigen Arbeit würde dann darin bestehen, sich über die eigenen Karriereanker klar zu werden.

Nach oben

Persönliche Anker entdecken

Edgar Schein hat aus empirischen Langzeitstudien an Managerkarrieren mit Absolventen von MBA-Ausbildungen acht Karriereanker entwickelt, die im Folgenden kurz genannt und erläutert werden.

  • Fachliche Kompetenz: Menschen mit diesem Karriereanker träumen davon, in ihrem Beruf so gut zu sein, dass ihr fachlicher Rat immer wieder gefragt ist. Sie ziehen aus der Lösung komplexer Sachprobleme ihre Selbstbestätigung. Demzufolge würden sie eher eine Arbeitsstelle kündigen, als eine Versetzung zu akzeptieren, die eine Tätigkeit außerhalb ihres Fachgebietes mit sich bringt.
  • Managementorientierung: Menschen mit diesem Karriereanker ziehen es vor, die Arbeit anderer Menschen zu koordinieren und zu integrieren. Sie träumen davon, in komplexen Systemen Entscheidungen zu treffen. Ihr Karriereziel ist erreicht, wenn sie nach einem Aufstieg in der Hierarchie in einer Funktion stehen, die es ihnen erlaubt, möglichst viel gestalten und beeinflussen zu können.
  • Autonomie/ Unabhängigkeit: Menschen mit diesem Karriereanker träumen davon, ihre Arbeit so durchführen und ihre Zeit so einteilen zu können, wie sie es selbst für richtig halten. Sie ziehen es vor, bei der Arbeit ihren eigenen Regeln, Bewertungsmaßstäben und ihrem Arbeitsrhythmus zu folgen. Ob ein Schritt auf der Karriereleiter nach oben infrage käme, hängt für gewöhnlich davon ab, ob die Beförderung ihnen mehr oder weniger Autonomie beschert. Nicht selten finden sich diese "Freigeister" in einer freiberuflichen oder selbstständigen Arbeit wieder.
  • Sicherheit/ Stabilität: Menschen mit diesem Karriereanker träumen von einer beruflichen Tätigkeit, die ihnen das Gefühl der Beständigkeit vermitteln kann. Sie schätzen die finanzielle Sicherheit und die Voraussehbarkeit beruflicher Anforderungen. Das Gefühl, zu einer Firma dazuzugehören, ist ihnen besonders wichtig. Sie vermeiden berufliche Entscheidungen, die mit einem Risiko verbunden sein könnten.
  • Unternehmerische Orientierung: Menschen mit diesem Karriereanker träumen davon, ihre eigene Firma zu gründen. Wenn sie Ideen entwickeln, Produkte, Dienstleistungen oder Technologien verkaufen, sind sie in ihrem Element. Dabei scheuen sie nicht, auch Risiken einzugehen. Sie empfinden ihre berufliche Entwicklung erst dann als erfolgreich, wenn sie etwas geschaffen oder erbaut haben, das sich ganz allein mit ihrem Namen verbinden lässt. Befinden sich diese Menschen in einem Angestelltenverhältnis, wollen sie für gewöhnlich ihren Bereich selbstständig führen und die alleinige Verantwortung für das Personal und Budget tragen.
  • Dienst und Hingabe: Menschen mit diesem Karriereanker träumen davon, einen Beitrag zum Wohlergehen der Gesellschaft zu leisten. Demzufolge finden sie ihre Berufstätigkeit als zufrieden, wenn sie ihre Fähigkeiten für andere Menschen einsetzen können. Ein möglicher Karriereschritt kommt nur dann infrage, wenn er mit dieser persönlichen Sinn- und Werteorientierung übereinstimmt. 
  • Herausforderung: Menschen mit diesem Karriereanker träumen von einer Arbeit, bei der sie Situationen meistern können, die eine echte Herausforderung darstellen. Demzufolge sind sie mit ihrer beruflichen Entwicklung nur zufrieden, wenn sie das Unmögliche möglich machen können. Sie wollen nicht in Routine versauern, sondern brauchen ständig neue Impulse. Ein spezielles Arbeitsgebiet ist für sie dabei zweitrangig. Was zählt, ist einzig und allein, Probleme in den Griff zu bekommen, die andere für unlösbar halten.
  • Integration des eigenen Lebensstils: Menschen mit diesem Karriereanker träumen von einer Arbeit, die es ihnen ermöglicht, ihr Privat- und Arbeitsleben in Einklang zu bringen. Diesen Wunsch nach einer Work-Life-Balance würden sie durch einen möglichen Karriereschritt nicht gefährden. Potenzielle Veränderungen werden immer dahingehend geprüft.

Die meisten Menschen lassen sich nach Schein anhand der oben genannten acht Typen von Karriereankern einordnen. Jeder soll nun für sich selbst herausfinden, was seine eigene berufliche Identität ausmacht und wie er diese in Einklang mit der Arbeitswelt bringen kann. Dabei kann die Gewissheit, dass keine guten oder schlechten Karriereanker existieren, sehr beruhigend sein.

Nach oben

Einsatz in der Beratung

Soll ich das Unternehmen wechseln oder lieber den alten Job behalten? Soll ich eine Fach- oder Führungskarriere anstreben? Wer sich mit solchen oder ähnlichen Fragen auseinandersetzt und nach langem Hin und Her keine befriedigende Antwort darauf findet, sucht nicht selten eine Beratung auf. Der Weg aus dieser Ambivalenz kann über die Analyse der individuellen Karriereanker führen. Dafür hat Schein einen Fragebogen entwickelt, der zunächst vom Ratsuchenden auszufüllen ist.

Dieser Einstieg in eine Beratung kann aus zwei Gründen hilfreich sein: Zum einen werden die beruflich relevanten Informationen vom Ratsuchenden selbst erhoben, nicht vom Berater. Dies kann auf der Beziehungsebene die Botschaft vermitteln, dass sich beide im Gespräch auf Augenhöhe begegnen. Zum anderen kommt es im Idealfall durch das Studium des Fragebogens zu einem reflexiven Prozess, der erkennen lässt, wie gewichtig die einzelnen, vorher latenten Karriereanker in der persönlichen Motivationsstruktur des Ratsuchenden sind.

Ergänzend zu dieser ersten Selbsteinschätzung kann ein Berater mit dem Ratsuchenden ein strukturiertes Interview führen, das die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Themen einer beruflichen Laufbahn beleuchtet. Mit dem leitfadengestützten biografischen Interview, das ebenfalls auf einem von Schein entwickelten Analysetool basiert, wird der Versuch unternommen, die Muster, die den bisherigen Entscheidungen zugrunde lagen, herauszufiltern und klar zu benennen. Mit anderen Worten: Das Interview soll den Ratsuchenden dabei unterstützen, jene Einflussfaktoren zu entdecken, die seine berufliche Karriere unbewusst bestimmen. Denn wer sich erst mal im Klaren darüber ist, welche Karriereanker niemals auf der Strecke bleiben dürfen, kann beispielsweise auch entscheiden, ob er das Unternehmen wechseln soll oder nicht beziehungsweise ob für ihn eher eine Fach- oder Führungskarriere infrage kommt.

Nach oben

Lebensaufgabe

Erfahrungsgemäß können auf einen Menschen bis zu drei Karriereanker passen. Dabei kann es auch vorkommen, dass sie in Konkurrenz zueinander stehen - zum Beispiel: Jemand träumt davon, seine Arbeit so durchführen und seine Zeit so einteilen zu können, wie er es selbst für richtig hält, möchte aber trotzdem ein geregeltes Einkommen beziehen. Diese Kombination kann sich als äußerst schwierig erweisen, wenn sich herausstellt, dass der Arbeitsmarkt kein entsprechendes Angebot offeriert. In solchen kniffligen Situationen empfiehlt der Begründer des Modells, einen "Trick" anzuwenden: Der Ratsuchende möge sich die potenziell zukünftige Berufssituation so vorstellen, dass sie zu einer Entweder-oder-Wahl zwingt. Auf diesem Weg kann er herausfinden, was er unter keinen Umständen aufgeben würde - das ist sein eigentlicher Karriereanker. Im Idealfall finden Menschen so zu ihrem Traumjob. Und wer erst einmal dort angekommen ist, also eine Arbeitsstelle bekleidet, die seiner Motivationsstruktur entspricht, kann auch stressige Zeiten gut regulieren.

Die Auseinandersetzung mit dem Modell der Karriereanker soll Schein zufolge keine "Einmal-Veranstaltung" sein, im Gegenteil: In Zeiten des stetigen Wandels plädiert er dafür, es sich zur Lebensaufgabe zu machen, sich immer wieder selbst zu beobachten und aus den Wahrnehmungen die entsprechenden Schlüsse zu ziehen - zum Beispiel: Stimmt die aktuelle Tätigkeit noch mit den persönlichen Karriereankern überein? Oder muss sie umstrukturiert werden, damit sie auch weiterhin als befriedigend erlebt werden kann? Ist zum Erhalt der eigenen Kompetenz der Besuch von Seminaren notwendig? Oder gibt es Schritte, die man partout vermeiden sollte? Wer sich dieser Lebensaufgabe stellt, wird zum Karriereberater in eigener Sache und nimmt seine berufliche Entwicklung selbst in die Hand. Er wird im besten Sinne zum "Täter", nicht "Opfer" der Umstände.

Nach oben


Literatur

Schein, E. H. (2005): Karriereanker. Die verborgenen Muster in Ihrer beruflichen Entwicklung. Lanzenberger/ Looss/ Stadelmann Verlags GmbH, Darmstadt.

Stand: 04.01.2018

Nach oben