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Interview

Sie haben gemeinsam bereits ein Buch zur tiergestützten Arbeit mit Kindern mit Handicaps verfasst. Wie sind Sie auf die Zielgruppe "ältere Menschen" gekommen?

Göhring: Seit mehr als 15 Jahren arbeite ich mit Kindern. Als eine Tagespflegeeinrichtung bei mir angefragt hat, ob sie mal mit Senioren vorbeikommen könnten, habe ich mich auf dieses Wagnis eingelassen. Für mich war es unglaublich schön und bereichernd zu sehen, wie gut auch ältere Menschen auf Tiere ansprechen. Wenn sie bei uns wie versteinert auf dem Hof ankommen, blühen sie förmlich auf. Beim Besuch auf der Weide ist zum Beispiel ein älterer Mann plötzlich vom Rollstuhl aufgestanden und hat sich bei mir eingehängt, um zu den Kühen zu gehen.

Was geht in älteren Menschen vor, wenn sie mit Tieren in Kontakt treten?

Göhring: Über die Tiere gelingt es mir sehr gut, eine Brücke zur Vergangenheit zu schlagen. Die Menschen hatten früher eine ganz andere Bindung zu Tieren. Die meisten sind mit Tieren aufgewachsen, besonders Hühner und Kühe liegen ihnen am Herzen, bei Schweinen geht es meistens ums gute Essen, um das Schlachtfest oder das Wurstmachen.
Schneider-Rapp: Anders als Kinder haben ältere Menschen einen großen Erfahrungsschatz. Sehr schnell fangen sie an zu erzählen, wie es früher mit den Tieren war. Diese Biografiearbeit – das heißt das Abrufen persönlicher Erfahrungen – kann aktivierend wirken. Viele der Geschichten finden sich in unserem Buch, für jede Tierart haben wir exemplarisch eine Geschichte aufgegriffen.

Wie profitieren besonders Menschen mit Demenz von der Begegnung mit Tieren auf dem Hof?

Göhring: Das Umfeld Bauernhof bringt einen großen Mehrwert, nicht allein wegen der Tiere. Es gibt so vieles, was die Senioren machen können: im Frühjahr Gemüse aussäen oder im Herbst Heu ernten und an die Tiere verfüttern. Es geht hier nicht um Bespaßung, sondern um eine sinnstiftende Arbeit, die die Senioren leisten können. Viele sind in ihrem Alltag passiv und Leistungsempfänger. Umso mehr freuen sie sich, wenn sie sich wieder nützlich machen können.
Schneider-Rapp: Bei der tiergestützten Arbeit geht es viel um sinnliche Erlebnisse. Über die Sinne lassen sich besonders Demenzpatienten gut erreichen. Ein Bauernhof ist eine wahre Schatztruhe. Dort gibt es viel zu spüren, riechen, schmecken und hören.

Viele alte Menschen haben entweder kognitive oder körperliche Einschränkungen. Welche Aktivitäten mit Tieren kommen für sie infrage?

Göhring: Das ist individuell unterschiedlich. Mit körperlich fitten Seniorinnen und Senioren können wir noch Heu machen oder Ställe einstreuen. Viele Aktionen lassen sich auch mit dem Rollator oder sogar im Rollstuhl bewerkstelligen. Klar, der Weg zur Weide ist weit, aber gleichzeitig auch ein gutes Gehtraining. Fellpflege geht bei kleineren Tieren wie Schafen und Ziegen auch vom Rollstuhl aus. Da arbeiten wir auf Augenhöhe.

Welche Anforderungen müssen die Tiere erfüllen?

Göhring: Die Tiere müssen gut vorbereitet und ausgebildet sein. Man muss sie daran gewöhnen, dass manche Besucher einen Rollator dabeihaben. Sie müssen lernen, dass der Rollator ihnen nichts antut. Dennoch gilt: So wie nicht jeder Mensch in der Sozialarbeit arbeiten kann, ist nicht jedes Tier für die Arbeit mit Senioren geeignet. Wichtig ist mir in dem Zusammenhang, nicht von Nutztieren zu sprechen. Für mich ist es ein Metaanliegen, ein Bewusstsein für den Wert der Bauernhoftiere zu schaffen. Denn allzu oft trifft man auf Vorurteile, etwa, dass Schweine stinken.

Eignet sich die tiergestützte Aktivierung auch für Menschen mit wenig Berührungspunkten zu Tieren?

Schneider-Rapp: Die Beziehung zu Tieren ist ein menschliches Urbedürfnis. Sie vermitteln Wärme, Lebendigkeit und ermöglichen Berührungen. Diese positiven Gefühle fehlen vielen Älteren. Außerdem sind viele Arbeiten für Tiere und nicht mit den Tieren möglich, zum Beispiel das Schneiden von Futter. Es gibt auch landwirtschaftliche Themen wie Kartoffeln, Getreide oder Kräuter (für die Kräuterweihe), die gehen ganz ohne Tiere. Das ist das Schöne am Bauernhof. Aber: Wer Tiere komplett ablehnt, ist auf dem Bio-Hof nicht richtig aufgehoben.

Welche räumlichen Voraussetzungen muss der Bauernhof erfüllen?

Göhring: Es muss nicht alles barrierefrei sein. Für ältere Menschen kann es durchaus im positiven Sinne herausfordernd sein, über eine holperige Wiese zu laufen. Wichtig sind eine barrierefreie Toilette und ein windgeschützter Raum, ältere Menschen frieren ja leicht. Das muss nicht unbedingt ein Gruppenraum sein, sondern kann auch eine Scheune oder ein Maschinenraum sein. Stolperfreie Wege und Rampen zu den Toiletten und zum Gruppenraum sind ebenfalls ein Muss. Im Sommer arbeiten wir auch gerne unter schattigen Obstbäumen. Wir wollen fordern und fördern.

Was raten Sie Landwirtinnen und Landwirten, die sich für soziale Arbeit mit Bauernhoftieren interessieren?

Göhring: Die tiergestützte Arbeit mit Bauernhoftieren anzubieten, ist ein Prozess. Jeder Betrieb kann damit zunächst klein anfangen. Die Besucher können zum Beispiel den Tieren Futter vorlegen oder sich auf der Weide die Tiere anschauen. Man kann auch mehr mit Pflanzen machen, zum Beispiel mit den Senioren Kräuterkränze binden und sie so über den Kräuterduft ansprechen.

Welche Qualifikation wird benötigt, um für Senioren Angebote machen zu können?

Göhring: Für den Einstieg reicht es, wenn ich mich als Landwirtin oder Landwirt ein wenig mit Bauernhofpädagogik auskenne. Anders ist es, wenn man – so wie ich – sehr nah an den Tieren arbeiten will. Wer daraus einen Betriebszweig entwickeln will, sollte sich besser fortbilden. Im Rahmen der Fortbildung werden rechtliche, didaktische Kenntnisse und vieles mehr vermittelt. Es gibt verschiedene Angebote: Ich selbst habe bei der European Society for Animal Assisted Therapy (ESAAT) eine Qualifikation als Fachkraft für tiergestützte Therapie, Pädagogik und Beratung erworben und bilde inzwischen auch selbst aus.

Welche Chancen bietet Bio-Höfen die soziale Arbeit mit ihren Kühen, Schweinen, Schafen oder Ziegen?

Göhring: Wir erkennen alle, dass ressourcenverschwendendes Wachstum an Grenzen stößt und nicht mehr funktioniert. In der tiergestützten Arbeit sehe ich für Bio-Höfe die Chance, ihre Landwirtschaft runterzufahren und sich mit sozialer Arbeit eine neue Einkommensquelle zu erschließen – und für die Partnerinnen von Bio-Landwirten die Chance, sich einen eigenen Wirkkreis aufzubauen, zum Beispiel, wenn sie ohnehin einen sozialen Beruf erlernt haben, etwa vorher als Lehrerin oder Erzieherin gearbeitet haben.

Die ältere Generation hatte noch viel mit Landwirtschaft zu tun – anders als die jungen Erwachsenen und Jugendlichen heute. Werden auch künftig tiergestützte Angebote mit älteren Menschen auf dem Bauernhof auf positive Resonanz stoßen?

Schneider-Rapp: Auf jeden Fall, nur ändert sich unsere Arbeit. Die Biografiearbeit wird weniger, aber die sinnlichen Erlebnisse bleiben. Und ein Bauernhof bietet viele Möglichkeiten, Themen wie Tierwohl, Artenvielfalt und Lebensmittel aufzugreifen, die auch zukünftig relevant bleiben.


Link

European Society for Animal Assisted Therapy (ESAAT) - Verein zur Erforschung und Förderung der therapeutischen, pädagogischen und salutogenetischen Wirkung der Mensch/Tier-Beziehung mit Sitz in Wien: www.esaat.org


Bauernhoftiere bewegen Seniorinnen und Senioren

Andrea Göhring, Jutta Schneider-Rapp

Kühe streicheln, Schweine füttern und mit Hühnern an früher erinnern: In ihrem Buch "Bauernhoftiere bewegen Seniorinnen und Senioren – Tiergestützte Aktivierung rund um Huhn, Kuh und Co." beschreiben die Autorinnen, wie sich die Ressourcen von älteren Menschen mit oder ohne Demenz auf dem Bauernhof stärken lassen und wie Biografiearbeit mit Bauernhoftieren gelingt. Viele berührende Fallbeispiele aus der Praxis und Fotos zeigen den Mehrwert dieser Arbeit und motivieren zum Nachmachen. Hinzu kommen Übungen und Tipps zum Einsatz der Bauernhoftiere über die Gestaltung der Stunden bis zur Abrechnung und zu rechtlichen Formalitäten. Das Buch richtet sich an Menschen aus sozialen, heilenden Berufen oder der Landwirtschaft sowie Angehörige von Pflegebedürftigen und begleitet sie beim Einstieg in die tiergestützte Arbeit auf dem Bauernhof.
 

2022, 200 Seiten
28,00 Euro
ISBN: 978-3-89566-421-2
pala-verlag, Darmstadt
www.pala-verlag.de