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Ein systemisches Grundverständnis sowie entsprechende Fragetechniken und Methoden sind Voraussetzungen, um nachhaltigen Beratungserfolg zu gewährleisten.
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In der landwirtschaftlichen Beratungspraxis sind es oftmals Vertreterinnen und Vertreter landwirtschaftlicher Familienbetriebe, die Beratung anfragen. Werden dabei die sich aus der Kopplung der sozialen Systeme "Betrieb" und "Familie" ergebenden widersprüchlichen Systemrationalitäten (Königswieser und Jochum 2006) sowie die von außen nur schwer zu durchschauenden Wirkungsgefüge nicht erkannt, ist ein nachhaltiger Beratungserfolg gefährdet. Denn die im System "Familie" gemachten Erfahrungen und die Erwartungen der anderen Familienmitglieder aneinander haben einen direkten Einfluss auf die Zusammenarbeit innerhalb des Systems "landwirtschaftlicher Betrieb". Das zeigt folgendes Beispiel einer ganz "normalen" Fütterungsberatung:

Ein Landwirt hatte seinen Berater zum wiederholten Mal zwecks einer Fütterungsempfehlung zur Steigerung der Milchleistung angefragt. Im Beratungsverlauf zeigte sich, dass der Berater mit einer reinen Fachberatung (Berechnung einer optimierten Futtermischung) das im Beratungsauftrag beschriebene Problem (Steigerung der Milchleistung) nicht nachhaltig lösen konnte, weil er die organisationalen Fragen (Wer füttert? Wie wird von dieser Person die Veränderung akzeptiert?) nicht gestellt hatte. Erst als klar war, dass auch der Vater des Landwirts, der als ehemaliger Betriebsinhaber die Tiere fütterte, in den Beratungsprozess eingebunden werden muss, fand sich eine nachhaltige Lösung.

An diesem Beratungsfall soll im Folgenden verdeutlicht werden, wie systemische Interventionen zur Förderung problemlösenden Handelns in landwirtschaftlichen Familienbetrieben konkret zu gestalten sind:

Erwartungsverhalten

Der Begriff der Erwartung meint, dass Personen, die miteinander umgehen, sich ein gewisses Verhalten von der anderen Person erwarten (zum  Beispiel dass die andere Person mir die Hand gibt, wenn ich ihr die meine zur Begrüßung reiche). "Erwartungserwartungen" entstehen dann, wenn sich die eigenen Erwartungen auf die Erwartungen der anderen Person beziehen (Luhmann 2018). Diese Erwartungserwartungen können sich zusammen mit Werten, Handlungsmustern und Verhaltensweisen in sozialen Rollen generalisieren (zum Beispiel die Erwartung an die niedergelassene Ärztin, dass sie einen untersucht). 

In der Beratungspraxis entscheiden oftmals die mit dem Rollenverständnis als Berater/-in verbundenen Erwartungen an sich selbst und die Erwartungen an die (vermuteten) Erwartungen der Klienten darüber, ob ein Fall über die Fachberatung hinaus auch systemisch betrachtet wird oder nicht. Einfach deshalb, weil das eigene beraterische Rollenverständnis eher das einer Fachberaterin entspricht und zugleich erwartet wird, dass die Erwartung der Klientin eine kurze, fachlich begründete und leicht zu realisierende Handlungsanweisung zur Lösung eines fachlichen Problems ist.

Hier ist bei Teilnehmenden von Seminaren zur systemischen Beratung häufig großer Widerstand zu spüren. Die Befürchtung: Der Einsatz systemischer Methoden könnte schnell zu einer Überforderung der Landwirtinnen und Landwirte beziehungsweise zur Unzufriedenheit mit der Beratungsleistung führen. Zudem berichten insbesondere junge Beratungskräfte, dass sie ein systemisches Arbeiten auch von ihren berufserfahrenen Kolleginnen und Kollegen nicht vorgelebt bekommen.

Letztendlich sollte immer das Beratungsergebnis überzeugen. Wenn Fachberatung um den systemischen Blick (Sind alle möglichen Beteiligten in die Beratung involviert? Welche Gründe könnte es haben, dass in diesem Fall das Problem so häufig auftritt?) erweitert und, da wo sinnvoll, auch systemisch interveniert wird, sollte dies auch evident werden. Deshalb schlagen Königswieser und Jochum (2006) einen reflexiv-kontextabhängigen Beratungsansatz vor. Dieser Beratungsansatz umfasst zum einen die systemische Reflexion des eigenen fachlichen Beratungshandelns und zum anderen – als Ergänzung zur Fachberatung – den kontextabhängigen Einsatz systemischer Beratungsmethoden.

Der Nutzen aus einem systemisch orientierten Vorgehen wurde auch im genannten Beratungsfall sichtbar. Letztendlich konnte die Akzeptanz für die betrieblichen Veränderungen aufseiten des Vaters erreicht – und durch die nunmehr umgesetzte Fütterungsempfehlung – die gewünschte, höhere Milchleistung realisiert werden.

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Systemabgrenzung

Gerade in Familienbetrieben erschließen sich dem Beratungspersonal die Wirkungsgefüge und Abhängigkeiten innerhalb von Betriebsabläufen nicht immer. Dies erschwert die im Zuge des Auftragsklärungsgesprächs durchzuführende inhaltliche, soziale und zeitliche Abgrenzung des Ratsuchendensystems. Damit diese Abgrenzung dennoch gelingt, müssen Beratungskräfte Folgendes berücksichtigen:

  • die richtigen (systemischen) Fragen stellen,
  • sich in das System des Klienten begeben (Beratung auf dem landwirtschaftlichen Betrieb und nicht im Büro der Beratungsorganisation),
  • eigene Ideen, Erwartungen und Antworten immer wieder kritisch hinterfragen und
  • scheinbar Zufälliges und Nebensächliches mit in die Analyse einbeziehen.

Dabei kann es sich ergeben, dass das bisherige Ratsuchendensystem um weitere Personen zu ergänzen ist. Hier besteht dann die Herausforderung darin, auch das erweiterte Ratsuchendensystem für einen gemeinsamen Beratungskontrakt – als Voraussetzung für eine gelingende Beratung – zu gewinnen.

Im oben dargestellten Beratungsfall ergab sich für die Systemabgrenzung im Rahmen der Auftragsklärung folgendes, zyklisches Vorgehen:

  • Wahrnehmung des Problems durch den Landwirt: unzufrieden mit der Milchleistung;
  • gemeinsame Datenerhebung: Futteranalyse im Stall;
  • Abgrenzung des Ratsuchendensystems durch den Berater: Landwirt;
  • gemeinsame Problemdiagnose: Futtermischung nicht optimal;
  • gemeinsame Aktionsplanung: Besprechung des neuen Fütterungskonzepts. Berater fragt Landwirt, weshalb die Zusammensetzung der Futtermischung von der letzten Beratungsempfehlung abweicht. Landwirt berichtet dabei, dass Vater (ehemaliger Betriebsleiter) die Fütterung durchführt;
  • Anpassung (erneute Abgrenzung) des Ratsuchendensystems durch den Berater: Landwirt und Vater;
  • erneute gemeinsame Problemdiagnose: bisherige Fütterungsempfehlungen vom Vater nicht umgesetzt, weil er meint: „Das habe ich doch immer so gemacht – und habe ich dir den Betrieb nicht wirtschaftlich stabil übergeben?“
  • erneute gemeinsame Aktionsplanung: Aushandlung eines gemeinsamen Beratungskontrakts mit der Festlegung, an den Widerständen und am Verhältnis zwischen Vater und Sohn mittels systemischer Beratungsmethoden zu arbeiten.

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Interventionsformen

Nachdem das Ratsuchendensystem um den Vater erweitert wurde, ging es in der Beratung darum zu ergründen, weshalb der Vater sich widerständig zeigt und ihn anschließend für ein Arbeitsbündnis innerhalb des Beratungsprozesses zu gewinnen. Um das Ratsuchendensystem besser kennen und verstehen zu lernen, stehen unterschiedliche systemische Interventionstechniken zur Verfügung:

  • systemische Fragen zur Informationssammlung,
  • Innere Landkarte (Rückerl 2015),
  • Ressourcen-Waage (Kapp 2014),
  • Visualisierungstechniken (Strukturdiagramme, Stichpunkte auf Moderationskarten oder Flipcharts, Visualisierung mit Alltagsgegenständen oder dem Systembrett),
  • Szenarien und Modellbildungen, zur Verdeutlichung von unterschiedlichen Perspektiven.

Ziel dieser Methoden ist es, Anliegen und Motivation des/der Ratsuchenden zu klären, Muster und Systemgrenzen zu erkennen und einen Kontrakt (Ist- und Zielzustand) auszuhandeln.

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Systemische Fragen

Im weiteren Beratungsverlauf dienen systemische Fragen dazu, Veränderungsprozesse anzustoßen, und zwar durch:

  • Sichtbarmachung von Unterschieden (Klassifikationsfragen, Prozentfragen, Fragen nach der Zustimmung oder Ablehnung),
  • Erweiterung der in sozialen Systemen vorgenommenen Wirklichkeitsbeschreibungen (Fragen zum Auftragskontext und Problemkontext) und 
  • Aufzeigen neuer Handlungsmöglichkeiten (Lösungsorientierte Fragen nach Ausnahmen oder Ressourcen, Wunderfrage).

Auch für die Beratung landwirtschaftlicher Familienbetriebe stellen systemische Fragen eine geeignete und wichtige Interventionsform dar, die – im Gegensatz zu anderen Interventionsformen wie Aufstellungen – den Landwirtinnen und Landwirten nicht fremd sind, sodass sie sich hierauf gut einlassen. Dies zeigte sich auch innerhalb der Fütterungsberatung, bei der systemische Fragen zur Abgrenzung des Ratsuchendensystems sowie während der gemeinsamen Problemdiagnose und Aktionsplanung zum Einsatz kamen. So half die Frage an den Sohn: „Was ist es, was Ihr Vater tut, was Sie als „störrisch“ bezeichnen?“ die Etikettierung („störrisch“) zu entdinglichen und die dahinterstehenden Handlungen und Kommunikationsmuster zu reflektieren.

Mit Fragen nach dem Problemnutzen: „Wofür wäre es gut, sich weiterhin den Anweisungen des Sohnes (in Bezug auf die Fütterung) zu widersetzten?“ und „Was würde schlechter, wenn es nichts mehr gäbe, bei dem Sie sich Ihrem Sohn widersetzen können?“ halfen dem Vater zu verstehen, welchen Nutzen er aus seinem widerständigen Verhalten zieht. Hierauf aufbauend konnten Vater und Sohn gemeinsam überlegen, wie sich der Problemnutzen (der Vater wollte sich von seinem Sohn geachtet und hinsichtlich seiner Lebensleistung wertgeschätzt fühlen) anders erzeugen lässt.

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Systemische Methoden

Neben den systemischen Fragetechniken steht den Beraterinnen und Beratern auch ein großer Pool an systemischen Methoden zur Verfügung. Allerdings gilt es dabei maßvoll abzuwägen, welche Methoden Veränderung fördern und welche die Ratsuchenden überfordern: „Wenn Menschen dem Gewohnten ausgesetzt werden, bleiben sie meist dieselben. Wenn sie aber etwas Ungewöhnlichem begegnen, könnte dieses Ungewöhnliche eine Veränderung auslösen. Wenn nun das Neue, auf das sie treffen, sehr (zu) ungewöhnlich ist, verschließen sie sich, um davon nicht inspiriert zu werden“ (Andersen und Katz 1991).

Methoden, die im landwirtschaftlichen Beratungskontext geeignet sind, Veränderungen zu fördern ohne zu überfordern, sind zum Beispiel:

  • Arbeit mit dem Systembrett, das mittels verschiedener Holzklötze und Holzfiguren in der Beratung hilft, auf einem Holzbrett Anliegen und die daran beteiligten Menschen, Informationen, Empfindungen, etc. zu visualisieren;
  • Hausaufgabe, die dem/der Ratsuchenden die Möglichkeit zu einer anderen Sicht auf das Problem und/oder eine Anregung zu einem anderen Handeln mit auf den Weg gibt;
  • Hypothesen als eine vorläufige Annahme über das, was ist oder was zukünftig möglich wäre;
  • Metapher als eine bildhafte Beschreibung eines Erlebens oder einer Wahrnehmung, um so ein neues Licht auf eine Angelegenheit zu werfen und andere, erweiterte Wahrnehmungen zu ermöglichen;
  • paradoxe Intervention (Selvini Palazzoli 2011), die ein Symptom oder Problem in einer sich selbst widersprechenden Weise interpretiert und mit einer unlogischen (paradoxen) Handlungsaufforderung verknüpft, die ein neues Verhalten hervorbringen kann;
  • Reframing (Umdeuten), um einem bestimmten Sachverhalt eine neue, bisher nicht zugeschriebene Bedeutung zu geben (Rückerl 2015).

In dem hier vorgestellten Beispielfall erhielten Vater und Sohn die Hausaufgabe, sich gegenseitig einen Brief zu schreiben und dabei vorgegebene Fragen zu beantworten. Nachdem beide den Brief des anderen gelesen hatten, erhielten sie die Möglichkeit, sich über die Briefe und das, was diese in ihnen auslösten, auszutauschen. Dieses Vorgehen förderte ein problemlösendes Handeln im Ratsuchendensystem, indem es Vater und Sohn zuerst eine Veränderung ihrer Sicht auf die Lebenswelt des Gegenübers und daraus die Veränderung ihrer Meinungen, Einstellungen und ihres Handelns ermöglichte.

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Beratungshaltung

Schlussendlich sind es aber nicht zuvorderst die systemischen Fragen und Methoden, die in der Beratung den Unterschied machen, sondern die systemische Beratungshaltung, die der/die Berater/-in leben muss. So versteht die systemische Beratungshaltung die Ratsuchenden als aktive Konstrukteure ihres Wissens (Reich 2010), die durch Impulse von außen nur irritiert und so zum Umdenken angeregt, aber nicht belehrt werden können (Wittpoth 2013).

Deshalb sollten Beraterinnen und Berater als Coach im Sinne von Begleitern, Ermutigern und Unterstützern auftreten und dabei darauf achten, dass die Intervention auf Freiwilligkeit beruht, für die Ratsuchenden nachvollziehbar, die Neustrukturierung der eigenen Erfahrungen plausibel und mit den bisherigen Erfahrungen kompatibel ist. Hierfür eignen sich Beratungssettings, die sich an den Ressourcen der Ratsuchenden orientieren, ein Lernen an Widersprüchen ermöglichen und die Metakommunikation und Reflexion fördern.

Dabei empfiehlt sich im Beratungsprozess die Orientierung an folgenden Leitfragen:

  • Welche Ressourcen können bei den Ratsuchenden aktiviert werden?
  • Ist die Intervention an das Vorwissen der Ratsuchenden anschlussfähig?
  • Welchen Raum können Emotionen im Beratungsprozess einnehmen?
  • In welcher Form erhalten die Ratsuchenden die Möglichkeit, ihre eigenen Vorstellungen zu konstruieren und auf ihre Brauchbarkeit hin zu prüfen?
  • Welche Anregungen/Methoden/Irritationen werden gegeben/angewendet, um im Verlauf des Beratungsprozesses lineares Denken bzw. Denkroutinen zu durchbrechen?
  • Welche Inputs (Berechnungen, Infomaterialien, etc.) werden den Ratsuchenden zur Verfügung gestellt, um die gefundenen Lösungen selbstständig umsetzen zu können?
  • Welche Kompetenzen sollen während des Beratungsprozesses aufgebaut werden?
  • Wie erfolgt die Begleitung der Ratsuchenden während des gesamten Beratungsprozesses?
  • Welche Feedbackmethoden eignen sich, um den Beratungsprozess formativ zu bewerten und zu steuern?

Des Weiteren zeigt sich die systemische Beratungshaltung in einer Neugier, die alte Denkgewohnheiten hinterfragt und neue Zusammenhänge sowie Handlungsmöglichkeiten erschließt. Durch den Verzicht auf Handlungsanweisungen werden Selbstorganisation und Autopoiese (die Fähigkeit, sich selbst erhalten, wandeln, erneuern zu können) in den Vordergrund gerückt und so die Eigenverantwortlichkeit der Ratsuchenden gestärkt. Dabei unterscheidet die Beraterin/ der Berater zwischen der Verantwortung für die Gestaltung des Beratungsprozesses und der Verantwortung der Ratsuchenden für die inhaltliche Lösung und Umsetzung.

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Literatur

Andersen, T.; Katz, A. (Hg.) (1991): Das reflektierende Team. Dialoge und Dialoge über die Dialoge. Dortmund.: Verl. Modernes Lernen.

Kapp, F. (2014): Die Ressourcen-Waage. In: Fliegel, S. (Hg.): Psychotherapeutische Schätze. Tübingen: Dgvt-Verl., S. 151–154.

Königswieser, R.; Jochum, G. (Hg.) (2006): Komplementärberatung. Das Zusammenspiel von Fach- und Prozess-Know-how. Stuttgart: Klett-Cotta. URL: www.socialnet.de/rezensionen/isbn.php?isbn=978-3-608-94142-5 (Abruf: 8.8.2019). 

Luhmann, N. (2018): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Reich, K. (2010): Systemisch-konstruktivistische Pädagogik. Einführung in die Grundlagen einer interaktionistisch-konstruktivistischen Pädagogik. 6., Weinheim, Basel: Beltz.

Rückerl, T. (2015): Das große Praxis-Handbuch Business Coaching. Die wirkungsvollsten Werkzeuge für Profis. Weinheim: Wiley-VCH-Verl.

Selvini Palazzoli, M. (2011): Paradoxon und Gegenparadoxon. Ein neues Therapiemodell für die Familie mit schizophrener Störung. Stuttgart: Klett-Cotta.

Wittpoth, J. (2013): Einführung in die Erwachsenenbildung. Opladen, Stuttgart: Budrich.

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