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Eine neue Agrarästhetik und -architektur eröffnet Möglichkeiten, die Bilderwelten der Landwirtschaft neu zu besetzen.
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Landwirtschaft prägt und gestaltet Kulturlandschaft. Ob Weinbauregion, Bördelandschaft oder Grünlandgürtel – viele Regionen erhalten ihre regionale Eigenart und ihr Charisma über die Art der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung. Die Ästhetik der Landschaft muss dabei allerdings nicht zwangsläufig als unreflektiertes Nebenprodukt der agrarischen Primärproduktion betrachtet werden.

Ein Blick in die Historie zeigt, dass es schon in der Vergangenheit Ansätze gab, die agrarische Kulturlandschaft bewusst unter ästhetischen Gesichtspunkten zu gestalten: So kam im England des 18. Jahrhunderts die Idee der "Ornamented Farm" auf. Landsitze und Güter im damaligen England wurden nach ästhetischen Gesichtspunkten mit Buschwerken, Baumgruppen, Hecken, Alleen und kurzrasigen Schafweiden ausgestattet. Renommiertes Erbe dieses Gestaltungskonzepts sind die bekannten Landschaftsparks (Haber, 2010). Wie aktuell die Idee der "Ornamented Farm" wieder sein kann, vor allem vor dem Hintergrund sich zuspitzender Debatten um zahlreiche landwirtschaftliche Bewirtschaftungsverfahren, sollen folgende Ausführungen aufzeigen. 

Intuitive Prozesse

Die Bilderwelten der agrarischen Produktion unterliegen der gesellschaftlichen Beurteilung. Dabei ist nicht nur an die Wirkung der umfangreich diskutierten Undercover-Videos aus Ställen und der sich anschließenden medialen Kontroversen zu denken. Vielmehr muss das Bewusstsein dafür wachsen, dass jeder landwirtschaftliche Betrieb und fast jedes landwirtschaftliche Verfahren eine Außenwirkung haben. Gemeint ist die Weizenbestellung am Dorfrand, die Kuhweide am Radwanderweg oder der Schweinestall an der Bundesstraße. Auch hier entstehen alltäglich Bilder für ein größeres Publikum. Und auch diese Bilder werden beurteilt.

Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang ist die Relevanz des ästhetischen Eindrucks für die moralische Beurteilung. So konnten Jacobsen et al. (2006) durch ein neurologisches Forschungsdesign feststellen, dass bei ästhetischen und moralischen Beurteilungen fast die identischen Hirnregionen aktiviert werden. Zudem zeigt der wissenschaftliche Erkenntnisstand auf, dass Ästhetik im Verständnis von sinnlicher Wahrnehmung verschiedene Formen von implizitem Wissen entstehen lässt. Wertungen, die über intuitive Prozesse entstehen, können deutlich abweichen von überlegten, rationalen Wertungen. Ästhetische Ausdrucksformen besitzen in dieser Hinsicht ein besonderes Potenzial beim Aufbau von Vertrauen und Reputation (Taylor, Hansen, 2005).

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Idealisierung

Die Verkaufsförderung von Lebensmitteln findet sehr oft mit einem Hervorheben der Lebensmittelherkunft im Kontext von agrarischer Kulturlandschaft statt. Die abgebildete Kuhweide auf der Milchpackung oder das Fachwerkhaus auf der Eierpackung sind Beispiele dafür. Allerdings bedienen sich diese Marketingkonzepte selten der Bilder aus der aktuellen Realwelt des jeweiligen landwirtschaftlichen Produktionsverfahrens. Oftmals wird hier auf eine idyllische, romantische Inszenierung einer Landwirtschaft vergangener Zeiten zurückgegriffen.

Christian Dürnberger (2008) sieht in den so geweckten Sehnsüchten nach dem Ursprünglichen und dem Idyllischen einen Nährboden für emotionale Enttäuschungen aufseiten des Konsumenten. Haber (2010) äußert sich zur Idealisierung früher Kulturlandschaften folgendermaßen: "Die empfindsame städtische Bevölkerung hält bis heute am Bild der traditionellen ländlich-bäuerlichen Landschaft mit ihrer Vielfalt, Eigenart und Schönheit als dem Ideal der Kulturlandschaft fest. Dort möchte sie Erholung, Erlebnis und Anregung, Ästhetik und Harmonie, Zugänglichkeit und Offenheit finden. Dass die vorindustrielle bäuerliche Wirtschaftsweise als Trägerin dieser Tradition nicht mehr existiert, wird aus dieser Perspektive nicht zur Kenntnis genommen" (Haber, 2010, S.19).

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Weinbranche

Wie eine ästhetische Aufwertung der Agrarwirtschaft vonstattengehen kann und wo es gilt, direkte Potenziale zu erkennen, zeigt die Weinbranche. Die Weinbranche hat sich in den Bereichen ästhetische Kommunikation und Baukultur beispielhaft entwickelt. Kein anderer agrarischer Produktionszweig hat ästhetische Aufwertungen bisher so disruptiv und annähernd ganzheitlich in der Fläche umgesetzt.

Der deutsche Weinbau hat bis in die 1990er-Jahre ebenfalls ein weitestgehend produktionsorientiertes Branchenverständnis gelebt. Prof. Dr. Robert Göbel von der Hochschule RheinMain skizziert die Entwicklungen der deutschen Weinbranche folgendermaßen: "Auf dem Weg aus einer landwirtschaftlich geprägten Vergangenheit hin zu einer Lifestyle-Kultur hat sich die Architektur rund um den Wein vielerorts zum markanten Element der Außendarstellung entwickelt" (Göbel, 2012, S.9). Die Weinbranche hat jedoch nicht an historisch vorgegebene Muster der ländlichen Romantik angeknüpft. Stattdessen entstanden vielerorts Kellereien, Lagerhallen und Gasträume in einer modernen Architekturtypologie – häufig reduziert und minimalistisch gestaltet. Der Bezug zur umliegenden Landschaft ist allerdings ein wesentlicher Bestandteil dieser modernen Weinbauarchitektur.

Als zentraler Entstehungsort innovativer Weinbauarchitektur wird der US-Bundesstaat Kalifornien genannt. Dr. Hermann Kolesch, heute Präsident der Bayerischen Landesanstalt für Wein- und Gartenbau, beschreibt den Entwicklungssprung, der sich im Kalifornien der 1980er-Jahre auftat, als "kalifornischen Pluralismus": "Plötzlich bestand das Weingut nicht mehr nur aus Weinberg und Keller, sondern war eine komplexe bauliche Herausforderung für die Architekten. Verkostungsräume, Weinshops, VIP-Bereiche, Gartenanlagen mit Picknick- und Grillbereichen, Räume für die Kultur, Traubenverarbeitung, Keller und Lagerräume, die für die Besucher zugänglich gemacht werden mussten, sollten architektonisch umgesetzt werden. Gleichzeitig sollte dies harmonisch eingebaut werden in die Kulturlandschaft des Weins" (Kolesch, 2010, S.16-17).

In Europa adaptierten als erste österreichische Winzer die neuen Architekturansätze aus Kalifornien. Die österreichische Weinbranche integrierte eine neue Baukultur in eine konsequente Qualitätsphilosophie, die aus den Lehren des Glykol-Skandals resultiert. In den 1990er-Jahren schwenkte dann auch die deutsche Weinbranche in Richtung kommunikative Architektur. Über die ästhetische Aufwertung konnte sich die Weinbranche auch neue Vermarktungs- und Einkommensmöglichkeiten erschließen. So haben sich Winzerbetriebe sowie ganze Weinregionen mittlerweile zu touristischen Anziehungspunkten entwickelt. Zudem ist die architektonische Aufwertung vieler Weinhöfe zur Basis für einen erfolgreichen Direktvertrieb geworden.

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Fazit

Die aufgezeigten Erkenntnisse zur visuellen Wahrnehmung und zur Landschaftsentwicklung legen nahe, dass die Landwirtschaft sowohl auf einzelbetrieblicher Ebene als auch auf Branchenebene das optische Erscheinungsbild der landwirtschaftlichen Verfahren unter ästhetischen Gesichtspunkten reflektieren sollte. Es gilt die Bilderwelten der Landwirtschaft neu und aktiv zu besetzen. Ein wesentlicher Ansatzpunkt wäre in diesem Zusammenhang die landwirtschaftliche Baukultur.

Die Ausgestaltung einer neuen Agrarästhetik und Agrararchitektur würde wiederum dem Agrarmarketing einen neuen Spielraum offenbaren, um die landwirtschaftliche Realität abzubilden. Die Bilderwelten der Vergangenheit könnten damit weichen für neue Impressionen aus der landwirtschaftlichen Realität. Die Idee der "Ornamented Farm" ist damit hoch aktuell und könnte die Bilderwelten der Eierpackung und der Bundesstraße vereinen.

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Literatur

Dürnberger, C. (2008): Der Mythos der Ursprünglichkeit – Landwirtschaftliche Idylle und ihre Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung. In: Forum TTN, Jg. 2008, Nr.19., S. 45-52.

Göbel, R. (2012): Persönlichkeitsorientierte Architektur & Weinmarketing. Authentizität als Grundlage für Nachhaltigkeit und Erfolg. Dreieich: Gebrüder Kornmayer.

Haber, W. (2010): Postindustrielle Kulturlandschaften. In: Feldstudien - Zur neuen Ästhetik urbaner Landwirtschaft (Regionalverband Ruhr), S. 16-22. (Bd. 2010). Basel: Birkhäuser.

Jacobsen T, Schubotz R I, Hofel L, & Cramon D Y (2006): Brain correlates of aesthetic judgment of beauty. NeuroImage (29), S. 276–285.

Kolesch, H. (2010): Wein & Architektur - die neuen Wohnräume des Weins. Bauen für die Landwirtschaft (1/2010), S. 16-19.

Taylor, S., Hansen, H. (2005): Finding from: Looking at the field of organizational aesthetics. In: Journal of Management Studies 42(6), S. 1211-1231.

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