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Natur wird von einem Großteil der Kinder und Jugendlichen als langweilig oder – mit Blick auf Zecken, Sonnenbrand und Maden – sogar als gefährlich empfunden. Wie lässt sich dieser Entwicklung entgegenwirken?
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Ausgehend vom demografischen Wandel, sinkenden Schüler- und damit Ausbildungszahlen in den Grünen Berufen ist die zunehmende Entfremdung von der Natur auch der Begeisterungsfähigkeit für Grüne Berufe wie den des Gärtners abträglich. Ein guter Grund um sich mit den maßgeblichen Organisationen, Experten der "grünen Bildung" und Akteuren verwandter Bereiche auszutauschen. So bildete sich ein Konsortium aus Zentralverband Gartenbau e.V. (ZVG), der Humboldt-Universität, den Berliner Gartenarbeitsschulen und der Peter-Lenné-Schule in Berlin, um die Vernetzung von Wissenschaft und Praxis zu fördern. Das erste Symposium "GreenEd" (Green Education) mit rund 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus dem In- und Ausland (s. B&B Agrar 3-2017, S. 7) bot Gelegenheit zur Diskussion über die Herausforderungen, vor denen eine Gesellschaft ohne bewussten Natur- und Umweltbezug und damit die "grüne Bildung" steht.

Naturentfremdung

Naturentfremdung ist nicht nur ein deutsches Phänomen. Der für den seit 1997 erscheinenden "Jugendreport Natur" zuständige Hubert Koll vom Institut für Biologiedidaktik der Universität zu Köln skizzierte zum Vergleich auch die Situation in Nordamerika und Großbritannien. Dort sprechen prominente Journalisten wie Richard Louv und George Monbiot von einem "nature deficit disorder" beziehungsweise einer "second environmental crisis: the removal of children from the natural world". In Folge des steigenden Medienkonsums und der technischen Überformung der Lebenswelt entwickeln sich, so Koll, zunehmend Berührungsängste gegenüber der Natur, deren Ausmaß in den USA ärztlicherseits sogar schon als therapeutisch zu behandeln klassifiziert wird.

Den Betrieben des Gartenbaus drohen mit Blick auf die Nachwuchswerbung düstere Aussichten. Denn trotz Automatisierung und Digitalisierung steht beim Gärtnerberuf immer noch die Pflanze im Vordergrund, so die Ergebnisse einer 2012 im Auftrag des Zentralverbands Gartenbau erstellten Studie. Wenn die junge Generation jedoch nie Erfahrungen mit Pflanzen macht, kann sich auch kein grundlegendes Interesse für den Beruf einstellen. Statt eines "grünen Daumens" entwickeln manche Kinder und Jugendliche Gelenkarthrose infolge einer übermäßigen Nutzung von Smartphones.

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Praxisbeispiele

Vera Jentjens, Gartenbauunternehmerin aus NRW, reagierte hierauf und bietet in ihrer Gärtnerei seit Jahren Workshops für Kinder und Jugendliche an. Über ihre "Waldkindertage" erreicht sie im Frühjahr und Herbst jährlich rund 300 Kinder. Zusätzlich dazu veranstaltet sie Schulungen mit Kindergärten und Schulen in ihrer Umgebung. Im Rahmen der Aktion "Blumenzwiebeln" werden jeden Herbst 2000 Blumenzwiebeln mit Kindern und Erziehern gepflanzt - und das ist nur ein kleiner Ausschnitt ihrer Projekte.

Die amerikanische Architektin Prof. Robin Randall hat sich auf die Gestaltung natürlicher Lernumgebungen, die Neugier und Interesse an der Umwelt befördern, spezialisiert. Die grünen, lebensfreundlichen schulischen und außerschulischen Lernräume werden vom Beginn des Planungsprozesses an in engem Einklang mit der Nachbarschaft entwickelt und erfreuen sich in der Nutzung großer Akzeptanz.

Ein besonders positiv ausstrahlendes Beispiel ist das Gary Comer Youth Center, eine Schule in Chicago. Mit einem Dachgarten und einer eigenen kleinen Farm können auch Jugendliche aus einem innerstädtischen Raum Erfahrungen mit der belebten Natur und der biologischen Primärproduktion gewinnen. Die dort von ihnen gezogenen Kräuter werden beispielsweise an die Spitzengastronomie der Stadt verkauft und dadurch stark in ihrem Image befördert. Das Gary Comer Youth Center wurde auf diese Weise zu einem in den USA landesweit bekannten Modellbeispiel, wie auch der Besuch der dem Gärtnern, gesunder Ernährung und Bildungsthemen zugewandten Michelle Obama zeigt.

Ein Best-Practice-Beispiel aus Finnland steuerte die Forstwissenschaftlerin Eveliina Asikainen von der Tampere University of Applied Sciences bei. Ihr stark nachgefragtes interdisziplinäres Lehrangebot "Nature and Wellbeing" lädt dazu ein, die Natur mit ihren Phänomenen als Lern- und Lebensort bewusst wahrzunehmen und pädagogisch-therapeutisch zu nutzen. Die eigenen Lernerfahrungen in der Natur werden dabei in Lerntagebüchern dokumentiert und reflektiert. Die noch Jahre später messbare, signifikante und nachhaltige Wirkung primärer Naturerfahrung bei Kindern und Jugendlichen wurde auch durch neueste Studien von Dr. Kathrin Hille vom Transferzentrum für Neurowissenschaften in Ulm bestätigt und ist ein starkes Argument für die diesbezügliche frühkindliche Förderung.

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Lernort "Schulgarten"

Während Experten im Allgemeinen übereinstimmen, dass die Auseinandersetzung mit der Natur von überragender Bedeutung ist, liegen bisher noch zu wenige empirische Daten zur Naturerfahrung in Bildungsprozessen vor, bestätigte Dr. Svantje Schumann, die an der Fachhochschule Nordwestschweiz auf dem Gebiet der kindlichen Naturerfahrung als Bildungsprozess forscht und unter anderem folgende zentrale Fragen im Blick hat: Kann der beobachtete Verlust primärer Naturerfahrung soziale und kulturelle Verarmung nach sich ziehen? Inwieweit kann Naturerfahrung individuelle Bildungsprozesse beeinflussen?

Eine bestens geeignete Antwort auf das Problem mangelnder Naturerfahrung sieht Beate Walther, Leiterin des "Grünen Klassenzimmers" der LAGA Apolda 2017, in der Etablierung von Schulgärten. Der Lernort "Schulgarten" als pädagogisches Instrument einer Grundversorgung an Umweltbildung bietet weit mehr als nur die Gelegenheit zu praktischer Gartentätigkeit, sondern kann, so Walther, durch den direkten Kontakt mit der Natur eine handlungsorientierte Bildung und Erziehung gewährleisten.

Allerdings verfügen auch angehende Erzieher und Lehrkräfte in Deutschland nicht immer über eine entsprechende eigene Vorerfahrung und Umweltbildung. Deshalb kommt der Vernetzung außerschulischer und schulischer Aktivitäten, gerade auch in der Lehramtsausbildung, besondere Bedeutung zu, so ein Fazit des Symposiums "GreenEd". Hierbei wären Ansätze, die Mitarbeit in Projekten als Teil der Ausbildung von Lehramtsstudierenden zu fördern, wünschenswert. Fächerübergreifende Arbeit sei unverzichtbar und ein Bezug zum Lehrplan müsse dargestellt werden. Zu oft sind Aufbau und Instandhaltung eines Schulgartens vom freiwilligen Engagement von Lehrkräften und Erziehern abhängig. Der Zentralverband Gartenbau fordert zur anstehenden Bundestagswahl daher eine Überführung des Schulgartens als Lernort in die Lehrpläne.

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Naturerfahrung

Um in der Bildungsbiographie wirksam zu werden, muss Naturerfahrung früh beginnen - in Kindergärten und Grundschulen -, sich aber auch kontinuierlich fortsetzen. Naturerfahrung ist eine sehr wichtige Voraussetzung für den Impuls zu einer gärtnerischen Ausbildung. Schule und betriebliche Praxis sollten sich bemühen, gemeinsam die Sinne für Natur zu öffnen. Denn vorhandener Naturbezug stärke zusätzlich die intrinsische Motivation während der Berufsausbildung, waren sich Ausbildende, Berufsschullehrerinnen, Berufsschullehrer und Vertreter des DEULA Bundesverbandes als Verbund überbetrieblicher Ausbildungsstätten beim Symposium einig. Markus Bretschneider, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), zeigte jedoch die Grenzen der Darstellbarkeit von Naturerfahrung im Rahmen der Ausbildungsverordnung auf.

Erkenntnisse der Lehr- und Lernforschung zur Umweltbildung eröffnen neue Wege bei der bewussten Gestaltung von naturräumlichen Lernumgebungen. Stellvertretend sind hier die empirischen Studienergebnisse des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm zur nachhaltigen Wirksamkeit der Naturerfahrung zu nennen sowie der Hochschule für Agrar- und Umweltpädagogik in Wien zu gesundheitsfördernden Wirkungen auf Schüler.

Analoges und digitales Lernen können sich im Rahmen der Umweltbildung bei entsprechend gut strukturierter Vorbereitung sehr sinnvoll ergänzen und die intrinsische Motivation sowie Zugänge zur "grünen Bildung" fördern. Dies ist gerade für die agrar- und gartenbauwissenschaftliche Fachdidaktik bedeutsam, wie von der HU Berlin und der Staatlichen Lehr- und Versuchsanstalt für Gartenbau Heidelberg demonstriert wurde. Vor diesem Hintergrund ist auch die umfangreiche Datenbank zur Online-Recherche nach therapeutisch nutzbaren Pflanzen der Internationalen Gesellschaft für Gartentherapie entstanden.

Stand: 31.07.2017

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