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Tierwohl wurde aufgrund der Verankerung im Grundgesetz (Art. 20a GG) als Querschnittsthema in die berufliche Ausbildung an den beruflichen Schulen und den überbetrieblichen Ausbildungsstätten integriert (Hauschild & Krause, 2023). Allerdings wird die Motivation von Lehrenden und Lernenden, sich auf die Themen Tierwohl und nachhaltige Entwicklung zu fokussieren, nach einer Analyse von Jutta Beringer und Jörg John (2019) als nicht ausreichend eingeschätzt. Zusätzlich werden die in der Landwirtschaft Tätigen mit umfassenden gesamtgesellschaftlichen Anforderungen konfrontiert. Gegenwärtig sind Landwirtinnen und Landwirte gefordert, ihren Kompetenzerwerb eigenständig zu realisieren und die so erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten in die berufliche Ausbildung zu integrieren (Hauschild & Krause, 2023).

In dem Projekt "Entwicklung und Aufbau einer individuellen tierwohlorientierten Handlungskompetenz zur Gewährleistung von Tierschutz" als Teil der Modell- und Demonstrationsvorhaben (MuD) Tierschutz erarbeitet ein multiprofessionelles Team, bestehend aus dem Landwirtschaftlichen Bildungszentrum Echem (LBZ), dem Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung der Leibniz Universität Hannover (IfBE) und dem Thünen-Institut für Ökologischen Landbau (TI) innovative Lehr-Lern-Konzepte für die landwirtschaftliche Aus- und Weiterbildung (s. weiterer Online-Beitrag Dezember). Durch die Teilnahme an der überbetrieblichen Ausbildung und neue Lehr-Lern-Strukturen soll eine professionelle Haltung der Auszubildenden im Hinblick auf Tierwohl begünstigt werden.

Vorbereitend für die Entwicklung der Lehr-Lern-Konzepte erstellte das TI eine Sammlung bestehender Tierwohlerhebungs- und Tierwohlwissenstools (aktueller Stand: 126 Tools). Ein Großteil davon wurde für Landwirtinnen und Landwirte konzipiert, unter anderem als Managementhilfe oder als Werkzeug für die betriebliche Eigenkontrolle (TierSchG §11(8)). Die Tools wurden hinsichtlich ihrer Eignung zur möglichen Integration in die Lehr-Lern-Konzepte geprüft. Im Rahmen einer Umfrage auf 340 niedersächsischen Ausbildungsbetrieben mit Ausbildereignung im Bereich Rind und/oder Schwein wurden unter anderem die Bekanntheit, die Nutzung und der Einsatzzweck von Tierwohl-Tools durch Ausbilderinnen und Ausbilder untersucht.

Tierwohl-Identität

Das TI erfragte zudem das Tierwohl-Verständnis der Ausbildungsverantwortlichen. Dabei wurden folgende Aspekte gewichtet: Tiergesundheit, die Möglichkeit natürliches Verhalten auszuleben und das emotionale Befinden von Nutztieren für das Tierwohl (Fraser, 2008). Da der landwirtschaftliche Betrieb als Lernort von entscheidender Bedeutung für die berufliche Sozialisation ist, nimmt die Tierwohl-Identität der Ausbildungsbetriebe auch im besonderen Maße Einfluss auf die Tierwohl-Identität der (angehenden) Landwirtinnen und Landwirte. Auf den Betrieben zeigte sich, dass der Tiergesundheit speziesübergreifend die höchste Relevanz für das Tierwohl beigemessen wird, gefolgt von dem emotionalen Befinden und der Möglichkeit, natürliches Verhalten ausüben zu können (Cimer et al., 2023, s. Abbildung 1).

Zeitgleich untersuchte das IfBE, welche Faktoren der beruflichen Sozialisation die Ausprägung einer Tierwohl-Identität der Auszubildenden begünstigen. Die Untersuchung enthielt neben ausbildungsbezogenen Fragestellungen auch Fragen zum individuellen Tierwohlverständnis, zur Thematisierung des Themenbereichs Tierwohl in der Ausbildung und zu den Lernpräferenzen. So zeigte sich, dass die Tierwohl-Identitäten der Ausbildenden und der Auszubildenden große Ähnlichkeiten aufweisen (s. Abbildung 2). Genau wie die Ausbildungsbetriebe ordneten die Auszubildenden der Tiergesundheit die größte Relevanz zu. Gefolgt von dem emotionalen Wohlbefinden und der Möglichkeit, arttypisches Verhalten ausleben zu können.

Bezogen auf ihre Lernpräferenzen gaben 76,2 Prozent der Auszubildenden an, dass für die Entwicklung einer persönlichen Haltung zum Themenkomplex Tierwohl der Austausch mit anderen Auszubildenden und Lehrenden von hoher Relevanz ist. 65,8 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass Tierwohl in direkter Interaktion mit den Tieren thematisiert werden sollte. Gleichzeitig gaben 61,5 Prozent der Teilnehmenden an, dass Tierwohl auch mithilfe digitaler Medien, wie beispielsweise Videos, Podcasts oder Virtual-Reality-Anwendungen (VR) vermittelt werden kann.

Um das vorhandene Defizit in dem Bewusstsein für die Bedeutung der Themenfelder emotionales Befinden und natürliches Verhalten auszugleichen, müssen diese Themen in den Fokus der zu konzipierenden Unterrichtseinheiten gerückt werden (Cimer et al., 2023; Hauschild & Krause, 2023). Um eine ansprechende Lernumgebung für die Auszubildenden zu gestalten, sollen die Konzepte lernenden- beziehungsweise personenzentriert, praxisnah und tierfokussiert gestaltet werden. Aufgabe der lehrenden Person als Lern- und Prozessbegleiter ist es, die selbstgesteuerte Entwicklung einer tierwohlorientierten Handlungskompetenz der Auszubildenden zu unterstützen. Ein Austausch zwischen Lernenden und Lehrenden soll daher stets auf Augenhöhe stattfinden.

Lehr-Lern-Konzept

Anhand der Nutztierarten Rind und Schwein wurden übergeordnete Konzepte entwickelt (s. Abbildung 3), die aus einzelnen Unterrichteinheiten bestehen. Das Konzept bildet ein thematisch abgeschlossenes Gesamtkonstrukt unter dem Aspekt der vollständigen Handlung und der Kompetenzorientierung. Einzelne Lerneinheiten, wie das Treiben und Transportieren oder das Nottöten sind so gestaltet, dass eine Nutzung und Implementierung in andere Bildungsstätten möglich ist.

Der schematische Aufbau des Lehr-Lern-Konzepts ist beispielhaft am Themenkomplex Rind dargestellt. Die Beurteilung der Transportfähigkeit und Tiergesundheit in Theorie und Praxis dient als Ausgangssituation. In den folgenden Lernsituationen durchlaufen die Auszubildenden einzelne Produktionsstufen und evaluieren mithilfe tierbezogener sowie betrieblicher Indikatoren den Einfluss der Haltungsumwelt und des betrieblichen Managements auf das Tierwohl. Innerhalb der einzelnen Einheiten werden tierschutzrelevante Inhalte in Bezug gesetzt zu der eigenen Selbstwirksamkeit und der Verantwortung dem Tier gegenüber.

Unterrichtseinheiten

Die einzelnen Unterrichtseinheiten orientieren sich an dem Modell der vollständigen Handlung nach Hacker und Sachse (2014). Zu Beginn einer jeden Einheit werden die Lernziele erläutert. Konkret findet in den jeweiligen Lernsituationen eine themenspezifische Aktivierung der Lernenden statt. Dabei wird das Vorwissen der Auszubildenden aufgegriffen und das Themengebiet anhand von Fragestellungen (zum Beispiel: "Ist dieses Tier transportfähig und warum (nicht)?") eingeführt. In Kleingruppen informieren sich die Auszubildenden in der Vorbereitungsphase mittels bereitgestellter Informationen über die Themenfelder und planen das konkrete Vorgehen.
In der Arbeitsphase treten die Auszubildenden in Aktion, sie erheben tierbezogene Daten, betriebliche Indikatoren oder evaluieren eine exemplarische Situation im Lehrstall mithilfe ausgewählter Tierwohl-Tools. Auf der Basis der erhobenen Daten wird der Lernprozess reflektiert. Der Transfer des Gelernten in den beruflichen Alltag erfolgt in einer Diskussion im Plenum mit Bezug auf die Ausgangsituation der Transportfähigkeit. Dies geschieht durch beispielhafte Fragestellungen wie: "Was nehmt ihr aus dieser Unterrichtseinheit mit in den Betrieb?" und "Welche Bedeutung haben eure Erkenntnisse auf die Ausgangssituation/Lernsituation der Tiergesundheit beziehungsweise Transportfähigkeit?" Als Abschluss stellen die Lehrenden den interessierten Auszubildenden weiterführende Informationen zum Themengebiet zur Verfügung.


Literatur

Cimer, K.; Ivemeyer, S.; Brinkmann, J.; March, S. (2023): Was brauchen wir für die Förderung einer tierwohlorientierten Handlungskompetenz von Junglandwirt:innen? In: Eine Frage der Haltung – 30 Jahre FREILAND-Tagung. 21. September 2023, Universität für Bodenkultur, Wien, S. 24-30.
Fraser, D. (2008): Understanding animal welfare. Acta Veterinaria Scandinavica 50, p.1; https://doi.org/10.1186/1751-0147-50-S1-S1.
Hacker, W.; Sachse, P. (2014): Allgemeine Arbeitspsychologie. Göttingen.
Hauschild, J.; Krause, F. (2023): Tierwohl in der landwirtschaftlichen Berufsausbildung. Berufsbildung, Januar, S. 28-31.
John, J.; Beringer, J. (2019): Status-quo-Analyse und Erarbeitung von Handlungsoptionen zur stärkeren Integration des ökologischen Landbaus in der beruflichen Bildung im Berufsbild Landwirt/-in, Gärtner/-in und Winzer/-in, Visselhövede: BÖLN.


Link

Projekt Tierschutzkompetenz (Laufzeit: 11.2021 - 10.2024); gefördert durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages; Projektträger: Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE), Förderkennzeichen 2820MDT122;