
Innerhalb der digitalen Landwirtschaft entstehen jährlich Innovationen in den Bereichen Precision Farming, Künstliche Intelligenz (KI) und Robotik, die eine zunehmende Optimierung und Automatisierung von betrieblichen Arbeits- und Geschäftsprozessen ermöglichen. Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB 2021) sind bereits heute zehn von 13 Kernaufgaben im Ausbildungsberuf Landwirt automatisierbar. Einschlägige Studien weisen darauf hin, dass die landwirtschaftlichen Fachkräfte von heute und morgen die notwendigen digitalen Kompetenzen entwickeln müssen, um mit den Auswirkungen der Digitalisierung von Agrarbetrieben umgehen zu können (Kehl et al. 2021; Zscheischler et al. 2022).
Der Aus- und Weiterbildung wird eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung dieser Anforderungen zugeschrieben. Aus Sicht der Bildungspraxis stellt die Entwicklung und Bereitstellung entsprechender Lehr- und Lernformate eine zusätzliche Herausforderung dar, zumal durch das Tempo der technologischen Entwicklungen eine zunehmende Wissenslücke zwischen Forschung, Industrie und Bildungspraxis droht. Um dieses Problem lösen zu können, müssen neue und innovative Ansätze gefunden werden, um eine forschungs- und praxisnahe Wissensvermittlung zur Digitalisierung zu gewährleisten.
Lehrthema Digitalisierung
Die Auseinandersetzung mit dem Lehrthema digitale Landwirtschaft in den Einrichtungen der Aus- und Weiterbildung muss von verschiedenen Blickwinkeln aus erfolgen (Euler et al. 2019; Paulus et al. 2023). Bezogen auf Lern- und Lehrprozesse stellt sich die Frage nach relevanten Lerninhalten zur Digitalisierung und deren Verknüpfung mit agrarischem Lernstoff. Darüber hinaus ist zu überlegen, mit welchen Methoden und Medien die Entwicklung digitaler Kompetenzen im betrieblichen oder schulischen Kontext gefördert werden kann.
Auf der Ebene der Bildungseinrichtungen ist zu überlegen, welche Maßnahmen notwendig sind, um die Lehrkompetenz der Ausbildenden beziehungsweise Lehrenden zu stärken, die fächerübergreifende Integration von Lerninhalten zu erreichen und die notwendige Infrastruktur und technische Ausstattung bereitzustellen, um entsprechende Lernprozesse zu digitalen Technologien zu ermöglichen. Im Sinne der Kooperation von Lernorten ist auch zu überlegen, wie eine engere Zusammenarbeit zwischen Bildungseinrichtungen und weiteren Akteuren aussehen kann, um den Wissenstransfer zur Digitalisierung im Rahmen der Aus- und Weiterbildung zu stärken.
Labore als Lernforen
Das Konzept des Reallabors als transdisziplinärer Forschungsraum findet in Deutschland seit den 2010er Jahren zunehmend Anwendung im Kontext transformativer Veränderungsprozesse und der Nachhaltigkeitsforschung (Wanner et al. 2018). „Ein Reallabor bezeichnet eine transdisziplinäre Forschungseinrichtung, um in einem räumlich abgegrenzten gesellschaftlichen Kontext Nachhaltigkeitsexperimente durchzuführen, um Transformationsprozesse anzustoßen und um entsprechende wissenschaftliche wie gesellschaftliche Lernprozesse zu verstetigen.“ (Parodi et al. 2016, S.16). Charakteristisch für Reallabore ist die enge Zusammenarbeit von Forschungs- und Praxispartnern, die kollaborativ und iterativ an praxisrelevanten Problemstellungen arbeiten und gemeinsam Lösungsideen entwickeln, erproben, evaluieren und zu einer Verstetigung führen.
Inhaltlich und methodisch können Reallabore sehr unterschiedlich aufgesetzt sein. Ein zentrales Element ist jedoch der gemeinsame, schrittweise Prozess, bei dem verschiedene Akteure aus Forschung und Praxis zusammenarbeiten (s. Abbildung 1): von der Problemidentifikation und Lösungsentwicklung (Co-Design) über die Erprobung und Umsetzung der Lösungen (Co-Produktion) bis hin zur Bewertung und Verbreitung der Ergebnisse (Co-Evaluation) (Wanner et al. 2018).
Reallabor AgDiBi

Um die Bildungspraxis in Baden-Württemberg bei der Entwicklung und Erprobung von Lernkonzepten zur Digitalisierung zu unterstützen, wurde im Rahmen des EU-Projekts CODECS (s. Infokasten) das Reallabor Agri-Digital Bildung (AgDiBi) eingerichtet. AgDiBi hat zum Ziel, in enger Zusammenarbeit von Forschung (Universität Hohenheim, Pilotprojekt 5G-PreCiSe), Ausbildungspraxis (Ihinger Hof, Versuchsstation Agrarwissenschaften der Universität Hohenheim), Landwirtschaftsverwaltung (Landesanstalt für Landwirtschaft, Ernährung und Ländlichen Raum (LEL) Schwäbisch Gmünd, Landratsamt Böblingen), berufsbildenden Schulen (Mathilde-Planck-Schule Ludwigsburg, Hilde-Domin-Schule Herrenberg und Fachschule für Landwirtschaft (FSL) Herrenberg) sowie Industriepartnern über einen Zeitraum von drei Jahren ein Bildungsangebot zum digitalisierten Pflanzenbau für Berufs- und Fachschulen zu entwickeln und zu erproben.
Die Zusammenarbeit orientiert sich dabei eng an dem dreistufigen Reallaboransatz mit den Phasen Co-Design, Co-Produktion und Co-Evaluation, der zu einer Bündelung der Kompetenzen und Ressourcen der beteiligten Akteure beiträgt. In AgDiBi übernehmen die Ausbildungspraxis und die sozialwissenschaftliche Forschung insbesondere Organisations- und Moderationsaufgaben. Die Bildungsakteure fungieren als Bindeglied zwischen dem Reallabor und den Schülerinnen und Schülern, um deren Lernbedürfnisse besser berücksichtigen zu können. Die Landwirtschaftsverwaltung unterstützt diesen Prozess beratend und hilft bei der Umsetzung von Ideen und Maßnahmen. Die Partner aus der Industrie und der angewandten Agrarforschung spielen ebenfalls bei der Umsetzung von Bildungsmaßnahmen eine tragende Rolle, indem sie technische Ressourcen zur Verfügung stellen und ihre Expertise im Bereich des digitalen Pflanzenbaus einbringen.
CODECS
Im Forschungsprojekt CODECS (maximising the CO-benefits of agricultural Digitalisation through conducive digital ECoSystems), das im Rahmen des Horizon Europe Programms (Grant: 101060179) gefördert wird, arbeiten insgesamt 33 Partner aus ganz Europa zu-sammen, um Kosten und Nutzen digitaler Technologien für die landwirtschaftliche Praxis besser verständlich zu machen. Dazu wird ein europaweites Netzwerk von 21 Reallaboren mit Landwirtinnen und Landwirten, Forschungseinrichtungen und anderen Akteuren auf-gebaut, um eine nachhaltige Verbreitung digitaler Produktionsmethoden zu ermöglichen.
Im Rahmen des Co-Designs wurde zunächst mit den Bildungsakteuren erörtert, welche Herausforderungen aus Sicht von Berufs- und Fachschulen bei der Wissensvermittlung zur Digitalisierung in der Landwirtschaft bestehen. Aufbauend darauf wurde eine gemeinsame Vision für die Bearbeitung dieser Problemstellung entwickelt und Ideen zur Umsetzung in Form eines praxisnahen Lernkonzepts zur Digitalisierung im Pflanzenbau ausgearbeitet. In diesem Zusammenhang soll über eine Dauer von drei Jahren ein jährlicher Digitalisierungsfeldtag auf einem Versuchsgut der Universität Hohenheim durchgeführt werden, welcher entlang eines spezifischen Produktionsprozesses im Pflanzenbau (zum Beispiel Düngung oder Pflanzenschutz) die Möglichkeiten des Einsatzes von digitalen Technologien verdeutlichen soll.
Umsetzungsphasen
Die erste Umsetzung (Co-Produktion) des praxisnahen Lernkonzepts erfolgte im Sommer 2024 unter dem Leitthema digitalisierte Düngung. Dazu wurde ein Stationslauf entlang des digitalisierten Düngeprozesses organisiert (s. Abbildung 2). Ziel war es, zu zeigen, wie digitale Technologien den Düngeprozess effizienter und nachhaltiger gestalten können. Anhand von sieben Lernstationen wurde gezeigt, wie digitale Technologien den Prozess der sensorischen Datenerfassung von Boden- und Nährstoffdaten, Dokumentation und Planung von Düngemaßnahmen und Ausbringung von organischem und mineralischem Dünger unterstützen können. Jede Lernstation ist dabei mit spezifischen Lernzielen verknüpft, welche einen Einblick in die technische Funktionsweise, Vor- und Nachteile oder Anwendungsszenarien ausgewählter Technologien gewähren. Die Lernmaterialien konnten jederzeit von den Schülerinnen und Schülern digital abgerufen und somit auch zukünftig im Rahmen des Unterrichts zur Nachbearbeitung des Feldtages genutzt werden.

Mit Blick auf den Feldtag 2025 wurde die Veranstaltung zum Abschluss gemeinsam mit den Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern evaluiert. Zum Zweck der Co-Evaluation wurden die Teilnehmenden gebeten, den inhaltlichen und organisatorischen Ablauf des Feldtages zu beurteilen. Aus den Rückmeldungen ging hervor, dass der Stationslauf, der Austausch mit den Experten sowie die Verständlichkeit und Praxisnähe der Vorträge positiv bewertet wurden. Die Schülerinnen und Schüler wünschten sich jedoch mehr Übungsmöglichkeiten und praktischen Bezug, insbesondere durch Maschinenvorführungen und detailliertere Informationen zur Wirtschaftlichkeit der vorgestellten Technologien. Im Sinne des Reallaborkonzepts wurden die Rückmeldungen der Veranstaltungsteilnehmenden im Nachgang detailliert mit den Akteuren des Reallabors diskutiert. Die Ergebnisse dienen als Grundlage für inhaltliche und methodische Anpassungen im Folgejahr.
Vernetzungsinstrument
Reallabore sind ein Instrument, das zur Vernetzung von Akteuren im landwirtschaftlichen Wissenssystem eingesetzt werden kann, um praxisnahes Lernen zu ermöglichen. Dabei ist der Ansatz besonders geeignet, um eine engere Zusammenarbeit zwischen Forschung, (Bildungs-)Praxis und privatwirtschaftlichen Akteuren zu initiieren. Grundvoraussetzung für die Zusammenarbeit ist eine konkrete Fragestellung, die für alle Seiten gleichermaßen von Interesse ist. Insbesondere ein enger und kontinuierlicher Austausch ist ein Schlüsselelement, um die Verständigung zwischen den einzelnen Akteuren zu gewährleisten, da auch davon auszugehen ist, dass die Zielsetzungen nicht zwangsläufig vollständig übereinstimmen. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit nehmen die Akteure unterschiedliche Rollen ein, wobei insbesondere die Bedeutung der Moderation von Austauschprozessen nicht zu vernachlässigen ist, um gemeinsame Lösungsansätze zu erarbeiten und zu implementieren.
Es ist zu erwarten, dass der Einsatz von Reallaboren als Experimentier-, Lern- und Vernetzungsformat nicht nur im Kontext von Digitalisierung und Bildung, sondern auch für andere Prozesse der Problemidentifikation und -lösung bei ökologischen, technischen oder sozialen Herausforderungen in der Landwirtschaft genutzt werden kann. Dabei können Reallabore insbesondere auch einen Beitrag zur Generierung und Verbreitung von wissenschaftlichem und praktischem Wissen leisten und einen Ansatz zur Verstetigung innovativer Problemlösungen darstellen.
Literatur
Euler, D.; Severing, E.; Bertelsmann Stiftung (2019): Berufsbildung für eine digitale Arbeitswelt. https://doi.org/10.11586/2019003
Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) (2021): Job Futuromat: Automatisierbarkeit im Beruf Landwirt/in. https://job-futuromat.iab.de/#top
Kehl, C.; Meyer, R.; Steiger, S. (2021): Digitalisierung der Landwirtschaft: gesellschaftliche Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und Effekte. Teil II des Endberichts zum TA-Projekt (Arbeitsbericht Nr. 194). https://doi.org/10.5445/IR/1000142951
Parodi, O.; Beecroft, R.; Albiez, M.; Quint, A.; Seebacher, A.; Tamm, K.; Waitz, C. (2016): Von „Aktionsforschung“ bis „Zielkonflikte“. In: TATuP – Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis, 25(3), S. 9-18. https://doi.org/10.14512/tatup.25.3.9
Paulus, M.; Pfaff, S. A.; Andrea, K. (2023): Über Digitalisierung lernen – alte und neue Herausforderungen für die Agrarbildung. In: Berichte über Landwirtschaft – Zeitschrift für Agrarpolitik und Landwirtschaft, S. 101. https://doi.org/10.12767/buel.v101i3.489
Wanner, M.; Hilger, A.; Westerkowski, J.; Rose, M.; Stelzer, F.; Schäpke, N. (2018): Towards a Cyclical Concept of Real-World Laboratories. In: DisP – the Planning Review, 54(2), S. 94-114. https://doi.org/10.1080/02513625.2018.1487651
Zscheischler, J.; Brunsch, R.; Rogga, S.; Scholz, R. W. (2022): Perceived risks and vulnerabilities of employing digitalization and digital data in agriculture – Socially robust orientations from a transdisciplinary process. In: Journal of Cleaner Production, Volume 358, Article 132034. https://doi.org/10.1016/j.jclepro.2022.132034
Links
CODECS:https://www.horizoncodecs.eu/project-and-partners/
Reallabor AgDiBi:https://ihingerhof.uni-hohenheim.de/agdibi
Pilotprojekt 5G-PreCiSe:https://www.5g-precise.de/